Industrielle Inseln im Park

Wissen weitergeben

Von Kollegen lernen

Unsere Arbeitswelt hat sich stark verändert. Die Anforderungen an Unternehmen und Beschäftigte sind gestiegen. Man muss flexibel sein, zusätzliche Aufgaben übernehmen und bereit sein, von Kollegen zu lernen. Wie das gelingt, zeigen Beispiele im Kraftwerk.

 

Eine Bohrmaschine brummt, die Drehbank läuft auf Hochtouren. Peter Hubelitz, Ausbildungsleiter am Kraftwerksstandort Lingen, nickt zufrieden. Die jungen Leute, die er durchs Fenster beobachtet, sind auf dem Weg zum Elektroniker, Industriemechaniker oder Mechatroniker. Es liegt ihm am Herzen, dass seine Schützlinge eine ordentliche Grundausbildung erhal- ten. „Der Anspruch an die Auszubildenden wird immer höher“, sagt Hubelitz. Seit 25 Jahren befasst er sich mit dem Thema und hat schon viele Veränderungen erlebt. Ein halbes Jahr länger als früher dauert heutzutage die Ausbildung, weil der Nachwuchs immer mehr Fertigkeiten erwerben muss. Dazu gehört, Maschinen zu programmieren oder Funktionspläne zu erstellen. Und wenn die Ausbildungszeit nach dreieinhalb Jahren endet, fängt das Lernen erst richtig an. „Dann muss sich jeder im Job spezialisieren.“ Von einem Schichtelektriker werden andere Dinge verlangt als von seinem Kollegen in der Werkstatt. Wie die Berufswege der 22 jungen Menschen aussehen werden, die zurzeit am Kraftwerksstandort ihre Ausbildung erhalten, ist daher noch nicht absehbar.

 

Flexibilität ist gefragt

Die Arbeitswelt hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Unterneh- men müssen heutzutage in der Lage sein, auf kurzfristige Ereignisse schnell zu reagieren. Nur so bleiben sie konkurrenzfähig. Deswegen brauchen sie Arbeitnehmer, die flexibel sind, zusätzliche Aufgaben bewältigen, sich fortbilden, bereit sind, von Kollegen zu lernen und den steigenden Anforderungen standzuhalten. Wie der Spagat gelingt, zeigt sich am Kraftwerksstandort Lingen.

 

Ausbildungsleiter Hubelitz hat zuvor elf Jahre als Leitstandsfahrer im Gaskraftwerk Lingen gearbeitet. Er war auf der sogenannten Warte, der Schaltzent- rale. Alle Fäden laufen dort zusammen, die Mitarbeiter überwachen von dort die Anlage rund um die Uhr. Die Verantwortung ist groß, die Arbeit anstrengend, regelmäßige Nachtschichten stehen an. Deswegen zieht Hubelitz den Hut vor Stefan Rakers, einem seiner Nachfolger. Der erfüllt nämlich eine Doppelrolle auf der Warte. Er ist Leitstandsfahrer, springt aber gleichzeitig als Schichtmeister ein, wenn einer der Kollegen krank ist oder in Urlaub geht. Permanent hat Rakers zwei Dienstpläne im Blick, die beide Nacht- und Wochenendarbeit voraussetzen. „Ich habe mich daran gewöhnt, flexibel zu sein.“ Schließlich arbeite er in einem Gaskraftwerk, das aufgrund der poli- tischen Vorgaben extrem kurzfristig auf die Lage auf dem deutschen Strommarkt reagieren muss.

 

Wenn die erneuerbaren Energien nicht genug Strom produzieren, müssen Gaskraftwerke ruck, zuck ans Netz, um die Lücke zu schließen. „Wir schaffen es von null auf 200 Megawatt in sechs Minuten“, sagt Rakers. Die Entscheidung, seine Kollegen nachts oder am Wochenende zu vertreten, liegt bei Rakers selbst. „Eine Hochzeit würde ich sicher nicht absagen. Aber ein Ausflug ins Schwimmbad fällt schon mal dem Dienstplan zum Opfer.“ Obwohl es anstrengende Wochen gebe, fühlt sich der 31-Jährige wohl. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so einen abwechslungsreichen Beruf mache.“

 

Zeitdruck gehört dazu

Im benachbarten Kernkraftwerk ist vor allem Kontinuität gefragt. Seit 1988 ist es am Netz. Hermann-Josef Hebbelmann ist von Anfang an dabei und wacht als Schichtleiter in der Schaltzentrale darüber, dass das Kraftwerk ord- nungsgemäß funktioniert, sodass in Deutschland die Lichter brennen und die Kühlschränke laufen können. Heb- belmann ist gewohnt, kurzfristig Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Beispielsweise, wenn ein Schmutzfilter zu verstopfen droht. Dann weiß der 57-Jährige genau, welche Maßnahmen nötig sind, um den Ersatzfilter zu aktivieren.

 

Wie stark sich die Arbeitswelt verändert hat, spürt Hebbelmann in seinem zweiten Aufgabenbereich. Wie alle Schichtleiter verantwortet er ein zusätzliches Spezialthema: Bei ihm dreht sich vieles darum, Störmeldungen zu erfassen, in eine zentrale, deutschlandweite Datenbank einzuspeisen und auf dieser Basis Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten. Nach dem Reaktorunfall in Fukushima stieg der Zeitdruck. Ministerialbeamte schicken seitdem noch umfangreichere Fragebögen zum Thema Sicherheit mit knappen Antwortfristen. „Der Druck ist spürbar höher.“ Dank seiner vielen Berufsjahre habe er aber die nötige Gelassenheit.

 

Erst gemeinsam, dann alleine

Hebbelmann zählt zu den erfahrensten Schichtleitern am Standort Lingen. Einige von ihnen gehen bald in den Ruhestand. Ihr wertvolles Know-how bleibt erhalten, denn in kaum einer anderen Berufsgruppe ist die Wissensweitergabe so gut organisiert wie bei den Schichtleitern. Ab dem ersten Arbeitstag nehmen die alten Hasen die jungen Kollegen unter ihre Fittiche. Patrick Wübbels hat erst im vergange- nen Jahr seine dreijährige Ausbildung zum Schichtleiter abgeschlossen. Im Kernkraftwerk Lingen standen ihm in einer halbjährigen Anlernphase auf der Warte zwei ältere Kollegen mit Rat und Tat zur Seite. Zusammen schoben sie Schichtleiterdienst. Die ersten Wochen hielt sich Wübbels im Hintergrund, lernte, wann welche Entscheidungen zu treffen sind. „Wir haben gemeinsam Strategien entwickelt, wie wir anfallende Aufgaben lösen. Dann war ich allein dran.“ Manchmal hat er sich noch fragend umgeblickt, um Bestätigung vom erfahrenen Begleiter zu bekommen. Meistens gab es anerkennendes Nicken. Wübbels ist sich im Klaren darüber, dass sein Job immer eine große Herausforderung sein wird, weil er bereit sein muss, sich stetig weiterzuentwickeln. Schließlich kann er von heute auf morgen mit ganz neuen Bedingungen konfrontiert sein. „Genau das ist das Schöne an meinem Beruf. Ich kann mir jedenfalls nicht mehr vorstellen, Karosseriebleche zu konstruieren“, sagt Wübbels, der einst Maschinenbau studiert hat.

 

Neue Ausbildung für die Karriere

Auch Michael Schulten hat einen Abschluss als Maschinenbau-Ingenieur und ist seit Kurzem Schichtleiter im Kernkraftwerk Lingen. Die Erinnerungen an seine Ausbildung in Essen sind noch frisch. „Das war so intensiv wie ein zweites Studium.“ Er berichtet von Vorlesungen, praktischen Übungen sowie Prüfungen und ist überzeugt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Als weitere Aufgabe kümmert er sich um das Thema „Wiederkehrende Prüfungen“. Neben gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollen gibt es unzählige weitere Sicherheits-Checks, die das Kraftwerk freiwillig durchführt. Schulten koordiniert diese Maßnahmen und ist immer wieder überrascht über die Vielschichtigkeit dieser Aufgabe. „Jeden Tag kommt etwas Neues auf mich zu“, erzählt der 28-Jährige. „Aber wenn ich Unterstützung benötige, ist immer ein erfahrener Kollege da, der mir hilft.“